Auditive Wahrnehmungsstörungen

(Abb.: www.radio108.de)

Was ist eine auditive Wahrnehmungsstörung?

Die Grundvoraussetzung für sprachliches Handeln (verstehen, sprechen, lesen, schreiben) ist ein einwandfreies peripheres Hörvermögen.

Das bedeutet, das Organ Ohr muss gesund und voll funktionsfähig sein, um Schallreize aus der Umgebung problemlos aufnehmen zu können: sie also vom Außenohr (Ohrmuschel – äußerer Gehörgang – Außenseite des Trommelfells) über das Mittelohr (Trommelfell – Gehörknöchelchen Hammer, Amboss und Steigbügel) hin zu den Nervenzellen des Innenohres (Schnecke mit den Sinneszellen – Hörnerv) übermitteln zu können.

Der HNO-Facharzt kann mittels verschiedener Audiometrie-Verfahren bzw mit Hilfe eines Tympanogramms (Messung der Trommelfell-Beweglichkeit) eine dementsprechende Diagnose stellen.

Doch selbst, wenn diese organische Voraussetzung vorhanden ist, kann nicht gleichzeitig davon ausgegangen werden, dass auch das zentrale Hörvermögen vollständig ausgebildet ist.

Es ist also wichtig festzustellen, ob das Gehirn die Informationen, die das Organ Ohr liefert, auch korrekt entschlüsseln, also „verstehen“ kann.

Ist dies nicht oder nicht ausreichend der Fall, spricht man von einer zentralen Hörverarbeitungs- oder auch auditiven Wahrnehmungs-Störung.

Eine Lese-Rechtschreibschwäche oder das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS, ADHS) sind oft damit in Verbindung zu bringen.

Ein Fallbeispiel

Der neunjährige Fabian kommt mit seiner Mutter in die Praxis eines Kinder- oder HNO-Arztes. Sie schildert die Lese-Rechtschreib-Probleme ihres Sohnes, einem intelligenten, vielfältig begabten Kind. Sie äußert ihre eigene Sorge bzw. die Vermutung der Klassenlehrerin, dass Fabian vielleicht „nicht richtig hört”, da er etwa bei Ansagen in der Schule nicht mitkommt und sehr viele Fehler macht, während das Übungsdiktat zu Hause wunderbar und quasi fehlerfrei funktioniert. Fabian muss auch während des Unterrichts häufig nachfragen. Da ihn das aber „langsam nervt“, zieht er sich in sich zurück und wird als Träumer abgestempelt, der „in seiner eigenen Welt“ lebt.

Zusätzlich schildert die Mutter auf Nachfragen des Arztes weitere Auffälligkeiten:
Fabian…

  • reagiert oft nicht, wenn er angesprochen wird
  • hat eine verwaschene, ungenaue Aussprache
  • ist sehr leicht durch Umgebungsgeräusche ablenkbar und reagiert empfindlich auf Lärm
  • zeigt allgemeine Unruhe
  • hat Konzentrationsschwierigkeiten
  • hatte eine verzögerte Sprachentwicklung
  • litt als Kleinkind (in der Sprachlernphase) häufig an Mittelohrentzündungen und Paukenergüssen
  • zeigt eine nicht altersentsprechende Merkfähigkeit

Der Arzt führt also eine Untersuchung der peripheren Hörfähigkeit durch, kann aber keine Auffälligkeiten feststellen. Das Ohr funktioniert einwandfrei.

Die Mutter ist nun beruhigt, dass der organische Befund unauffällig ist. In einem weiteren Schritt muss allerdings nun abgeklärt werden, wie gut Fabians Gehirn die akustischen Signale, die sein Ohr aufnimmt, verarbeiten kann.

 

Die Warnke®-Methode

Der deutsche Psychoakustiker Fred Warnke (1929-2013) befasste sich bereits während seiner Tätigkeit bei der Sennheiser Electronics GmbH (Audiotechnik) mit den Zusammenhängen zwischen Hörvermögen und der Psychologie bzw. Lernkraft des Menschen. Seine umfangreichen Forschungen und Studien, die mit verschiedenen Universitäten weltweit durchgeführt wurden, brachten u. a. die Erkenntnis, dass die oben erwähnte zentrale Hörverarbeitung eindeutig von der Automatisierung der sogenannten Low-Level-Funktionen (LLF) abhängt, also von jenen Fähigkeiten, die die Basis unseres sprachlichen Handelns bilden:

  • Die visuelle Ordnungsschwelle ist diejenige Zeitspanne, die zwischen zwei visuellen Reizen benötigt wird, um sie getrennt voneinander wahrnehmen und in eine Reihenfolge (Ordnung) bringen zu können. Je geringer die Abstände zwischen zwei Reizen sind, desto mehr Information kann aufgenommen werden. Diese visuelle Fähigkeit ist zum Beispiel beim Verarbeiten von gelesenen Texten sehr wichtig.
  • Die auditive Ordnungsschwelle definiert oben genanntes Muster im auditiven Bereich (Wahrnehmung akustischer Reize). Sie erlaubt unter anderem die Differenzierung von d/t, b/p und g/k, da sich diese Buchstabenpaare vor allem durch die Länge der anlautenden Konsonanten unterscheiden. Eine verlangsamte auditive Ordnungsschwelle könnte beispielsweise zur Folge haben, dass der anlautende Konsonant völlig “durch den Rost fällt”, also gänzlich überhört wird. Und ob “tragen” oder “ragen” macht doch einen gehörigen Unterschied!
  • Das Richtungshören (“Party-Effekt”) ist unentbehrlich für das Herausfiltern und Unterscheiden von Nutzschall und Störschall. Für den Schüler während eines Diktates in der Klasse gewährt einwandfreies Richtungshören das problemlose Abheben der Stimme des Lehrers von den Störgeräuschen der Klasse (Husten, Sesselrücken, andere Stimmen, zu Boden fallende Gegenstände etc.).
  • Die Tonhöhendiskrimination dient der Erkennung und richtigen Interpretation der Sprechmelodie (Prosodie) und der Vokalerkennung.
  • Eine perfekt automatisierte auditiv-motorische Koordination ist für Schüler u.a. immer dann notwendig, wenn es um die graphische Umsetzung akustischer Reize geht (die klassische Diktatsituation!).
  • Die Wahl-Reaktionszeit definiert die Fähigkeit, blitzschnell und zielgerichtet auf unterschiedliche Reize reagieren zu können. Die Auswahl der richtigen Strategie und die möglichst geringe Zeit, die benötigt wird, um danach ins Handeln zu kommen, sind in der Kommunikationssituation wichtig (bzw. etwa in Gefahrensituationen lebenswichtig!)
  • Die auditive Mustererkennung dient der Unterscheidung minimaler Unterschiede innerhalb von Tonfolgen und der Fähigkeit, bestimmte Laute eindeutig voneinander abgrenzen zu können.

Das auf Fred Warnkes Forschungen beruhende Warnke®Verfahren ist eine Test- und Trainingsmethode, die an den Wurzeln sichtbar gewordener Lernstörungen ansetzt. Es ist also keine Symptomtherapie wie etwa ein herkömmliches Legasthenie-Training. Die Warnke®-Methode wird außerdem im logopädischen Bereich, als (Fremd-)Sprachentraining, in der Aphasie-Therapie, zur allgemeinen Förderung der Konzentrations- und Merkfähigkeit, etc. eingesetzt. Die beiden Säulen des Warnke®-Verfahrens sind zwei Geräte, die jeweils sowohl für das Training in der Praxis des Therapeuten als auch für das häusliche Training bestimmt sind.

Der Brainboy (BBU) ist ein handliches Gerät, das mit einem Kopfhörer ausgestattet ist.
Es verfügt über acht “Spiele”, die alle Low-Level-Funktionen bedienen, die bei einem gesunden Menschen automatisiert sein sollten.

Es werden Klicks bzw. Töne angeboten, die, je nach Spiel, durch den Druck einer von zwei Tasten auf dem Gerät in eine Ordnung gebracht bzw. einem Muster zugeordnet werden sollen.

Mit dem Lateraltrainer (LT) wird die Koordination der beiden Hirnhälften verbessert. Das Kind hört über Kopfhörer eine Modellstimme, die beispielsweise einen Text liest, während es ebendiesen Text vor sich hat und in ein Mikrofon mitspricht. Es hört nun sowohl die Modell- als auch die eigene Stimme synchron über Kopfhörer.
Das besondere am Lateraltraining ist, dass der Schall der Modellstimme von einem Ohr zum anderen wandert, während sich der Schall der eingespielten Stimme des Kindes in die jeweils andere Richtung bewegt. Diese kreuzweise Hin-und Her-Bewegung bewirkt ein ständiges Aktivieren des Corpus Callosum, also des Balkens, der die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet. Gerade diese Hemisphärenkoordination ist bei Kindern mit Lese-Rechtschreib-Schwächen oft sehr beeinträchtigt.